Buchtipp: Geniale Störung

Steve Silberman zeichnet in seinem Buch „Geniale Störung“ die Geschichte der Autismusforschung und -wahrnehmung, vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, nach. Das Buch räumt mit dem Mythos auf, dass Autismus eine moderne, durch Impfstoffe oder Umwelteinflüsse verursachte Epidemie sei. Stattdessen argumentiert Silberman, dass Autismus schon immer existierte, jedoch oft falsch diagnostiziert oder übersehen wurde. Als Beispiel bringt er etwa die Geschichte von Henry Cavendish, einem genialen Forscher des 18. Jahrhunderts, der anhand zahlreicher Experimente wichtige physikalische Gesetze vorwegnahm. Zwar weiß man rückblickend natürlich nicht mit Sicherheit, ob Henry Cavendish Autist war, aber Beschreibungen seiner Zeitgenossen würden viele moderne Kriterien erfüllen, anhand derer heute Autismus diagnostiziert würde.

Silberman zeigt, wie die Pioniere der Autismusforschung, Hans Asperger und Leo Kanner, unterschiedliche Wege einschlugen und wie Kanners Fokus auf die schwersten Fälle die Wahrnehmung von Autismus über Jahrzehnte hinweg prägte. Er enthüllt die tragische Verdrängung von Aspergers Arbeit, die oft hochfunktionale Autisten als Teil der menschlichen Vielfalt betrachtete, zugunsten von Kanners pathologischer Sichtweise. Besonders spannend und mitunter auch erschreckend sind dabei die Entwicklungen innerhalb der Psychiatrie, die anhand von Fehlannahmen oft viel Leid verursachten. Im Laufe der Geschichte führte beispielsweise die These von den „Eisschrank-Müttern“ dazu, dass man Müttern die Schuld am Autismus ihres Kindes gab. Leider hielt sich diese Vermutung mehr als vier Jahrzehnte und machte Müttern, die ohnehin mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen umzugehen hatten, obendrein noch Schuldgefühle.

Silberman versteht es, die Geschichte des Autismus mit persönlichen Schicksalen zu verknüpfen und das Buch so noch lebendiger zu machen. Er erzählt die Geschichten von Wissenschaftlern, Eltern und autistischen Menschen selbst, die den Leser emotional berühren. Obwohl das Buch ein Sachbuch ist und auf umfangreichen Recherchen beruht, bleibt es stets verständlich und liest sich teilweise spannend wie ein guter Roman.

Die Kernthese des Buches ist die Neurodiversität, also die Idee, dass neurologische Unterschiede wie Autismus eine natürliche und wertvolle Form menschlicher Vielfalt darstellen und nicht als Defekt oder Krankheit betrachtet werden sollten. Das Buch ist nicht nur eine Geschichtsstunde, sondern ein Aufruf zum Umdenken. Es fordert uns heraus, Autismus nicht als etwas zu sehen, das geheilt oder korrigiert werden muss, sondern als eine andere Art des Seins. Diese Perspektive ist befreiend und ermutigend, sowohl für autistische Menschen als auch für deren Familien und die Gesellschaft als Ganzes. Es legt den Grundstein für eine stärkere Inklusion und Akzeptanz.

Literatur

Silberman, Steve (2024). Geniale Störung. Die geheime Geschichte des Autismus und warum wir Menschen brauchen, die anders denken. DuMont-Verlag.