Der Jammerer

Ein Freund bittet Sie um Hilfe und Sie sind bereit ihm Ihre Erfahrung und Beobachtungen mitzuteilen. Sie machen den ersten Vorschlag, was er versuchen könnte, und er erklärt Ihnen, warum das nicht ginge. Sie versuchen ihm eine andere Möglichkeit zu nennen und er erklärt Ihnen wiederum sehr ausführlich, warum das für ihn nicht funktionieren würde. Und so geht das weiter, bis Sie fünf oder sechs Vorschläge gemacht haben, die er alle als für ihn unpassend befunden hat. Allmählich kommen Sie selbst in ein Hilflosigkeitsgefühl, Ihre Stimmung leidet und Sie glauben, dass dieser Freund tatsächlich in einer sehr bemitleidenswerten Situation ist und man ihm wahrscheinlich nicht helfen kann.

Was ist hier geschehen?

Es handelt sich bei Ihrem Freund offenbar um einen "Jammerer", der in Wirklichkeit nichts verändern will. Das ist ihm selbst aber nicht klar. Stattdessen zieht er durch sein Jammern andere in seinen Sumpf aus depressiver Stimmung, Ausweglosigkeit und Ohnmacht. Wenn er erreicht hat, dass Sie sich schlecht fühlen, geht es ihm, uneingestanden, besser. Die Befriedigung zieht er unbewusst auch daraus, dass er seine Situation für einzigartig hält und niemand ihn verstehen könne. Dazu kommt noch, dass Menschen im Allgemeinen Veränderung nicht mögen. So manchem ist das vertraute Unglück lieber als das unbekannte Neue. Denn schließlich könnte das Neue ja auch noch schlimmer sein.

Besucher, Jammerer und Klienten

Derartige „Jammerer“ beobachten wir auch in der Psychotherapie. In der lösungsorientierten systemischen Therapie werden drei Gruppen von Kunden einer Psychotherapie unterschieden, nämlich "Besucher", "Jammerer" und "Klienten". Die „Besucher“ haben gehört, dass Psychotherapie hilfreich sein kann, und wollen sich das einmal ganz unverbindlich ansehen. Sie haben beim Erstgespräch kein wirkliches Anliegen und auch keine Bereitschaft wirklich an sich zu arbeiten. Häufig erwarten sie vom Therapeuten eine Lösung und das am besten gleich im Rahmen der ersten Sitzung. Eine solche Erwartung ist hochgradig unrealistisch und daher wenig erfolgversprechend.

Die zweite Gruppe ist die Gruppe der „Jammerer“. Sie möchten, wie im obigen Beispiel gezeigt, gerne über ihre Schwierigkeiten klagen, erwarten auch, dass der Therapeut sie bedauert und sie darin bestätigt, wie schwer ihr Schicksal sei und dass sie es im Leben viel schwerer hätten als alle anderen. Typisch in einer Therapie-Situation sind Ja-Aber-Sätze, wie zum Beispiel: "Ich habe ja versucht meine berufliche Situation zu verbessern, aber…" Wenn der Therapeut nicht durchschaut, dass es sich hier um einen "Jammerer" handelt, kommt er meist selbst in Ohnmachtsgefühle, fühlt sich am Ende der Sitzung ausgelaugt und müde. Der Punkt ist, dass diese Klienten eigentlich nichts verändern wollen. Sie haben bereits eine Einsicht, dass es Schwierigkeiten in ihrem Leben gibt, aber sie sind nicht bereit anzuerkennen, dass sie selbst etwas damit zu tun haben und vor allem, dass sie selbst etwas ändern müssen. Der Widerstand gegen Veränderung ist hier immer noch größer als der Leidensdruck an der aktuellen Lebenssituation.

Die dritte Gruppe schließlich ist jene der echten Klienten. Sie haben ein Problem, erkennen mehr oder weniger klar, dass sie etwas damit zu tun haben und wollen aktiv eine Veränderung herbeiführen. Erst diese dritte Gruppe kann von einer Psychotherapie dauerhaft und nachhaltig profitieren. Diese Menschen bringen sich aktiv ein, sind bereit, auch schwierige Gefühle zuzulassen und zu besprechen und versuchen aktiv neue Lösungen zu finden. In der Regel erzählen sie auch mit Begeisterung, welche neuen Erfahrungen sie gemacht haben und was nicht so gut funktioniert hat.

Aufgabe jedes guten Therapeuten sollte es sein, diese drei Gruppen zu unterscheiden und nur mit Menschen zu arbeiten, die wirklich etwas an sich verändern wollen und Veränderung nicht passiv von außen erwarten. Therapeuten sind dabei so etwas wie Hebammen. Sie tragen dazu bei, dass die "Geburt" gelingt, gebären müssen die Klienten aber selber. Wer das verstanden hat und mit dieser Einstellung eine Psychotherapie beginnt, hat den halben Weg schon zurückgelegt.

Psychotherapie kann vielen Menschen und bei unterschiedlichen Symptomen helfen. Sie kann helfen Symptome zu lindern, neue Kompetenzen aufzubauen, Lösungen zu finden und insgesamt die Lebensqualität zu verbessern. Wie gut Psychotherapie hilft, hängt aber nicht nur vom Therapeuten ab, sondern zumindest teilweise auch vom Klienten. Das Sich-Einlassen auf unangenehme Einsichten und Gefühle gehört zu einer guten Psychotherapie dazu. Ein halbherziges: „Ich sehe mir das einmal an“, führt hingegen meist zu Frustration und der sich verfestigenden Überzeugung, dass Psychotherapie ohnehin nichts bringe.