Die Pathologisierung des Alltags

Begriffe wie "Depression", "Narzisst", "Trauma", "Borderline" oder "ADHS" sind in den letzten Jahren immer mehr in den Alltag übergegangen. Gar nicht so selten kommen Klient:innen mit Selbstdiagnosen laut TikTok, Instagram oder "Dr. Google" zu mir in die Praxis und sind fest davon überzeugt, eine schwere psychische Störung zu haben. Unterlägen Influencer:innen, die derartige Selbstdiagnosen verbreiten, nur österreichischem Recht, müsste man sie wegen Verstoß gegen das Psychotherapiegesetz oder wegen Kurpfuscherei anzeigen. Psychiatrische Diagnosen gehören immer in die Hände von Profis (Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Klinische Psycholog:innen)! Andere Personengruppen dürfen in Österreich keine Diagnosen stellen.

Solche Selbstdiagnosen sind nicht nur deshalb problematisch, weil sie so gut wie immer falsch sind, sondern auch deshalb, weil sie Personen, die wirklich schwere psychische Erkrankungen haben, nicht ernst nehmen und obendrein suggerieren, dass ohnehin jeder irgendwie depressiv wäre oder eine Borderline-Störung hätte.

An Freunden und Bekannten einfach mal so herumzudiagnostizieren ist eigentlich eine Form psychischer Gewalt und oftmals Ausdruck der fehlenden Bereitschaft wirklich mit seinem Gegenüber in Kontakt zu kommen. Und dort wo wir beginnen, von "toxischen Menschen" zu sprechen, nähern wir uns bereits gefährlich einem faschistischen Vokabular. Mein Gegenüber ist immer ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen, ganz gleich wie pathologisch ihr:sein Verhalten auch sein mag. Selbstverständlich kann jemand die Entscheidung treffen, den Kontakt zu einem Menschen abzubrechen, der ihn wiederholt beleidigt, gedemütigt oder gekränkt hat, aber es ist das Verhalten dieses Menschen, das uns verletzt und darunter ist immer irgendwo ein Mensch, der auch gesunde Anteile hat.

Zur problematischen Verwendung von psychologischen und psychiatrischen Fachbegriffen in der Alltagssprache schrieb Angelika Purkathofer, Fachärztin für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, am 20. Jänner einen Kommentar im Standard, den ich hier gerne verlinke: "Toxisch", "schizo", "Trauma", "Trigger"? Wider die Pathologisierung des Alltags