Ein vernachlässigter Sinn

Wir leben in einer Welt der Bilder und Töne. Irgendwie scheint das, was wir sehen und hören können für uns realer zu sein als andere Sinneseindrücke. Dabei vernachlässigen wir einen Sinn, ohne den wir gar nicht überleben könnten, nämlich den Tastsinn.

Wo wir mit freiem Auge längst keine Unebenheiten mehr wahrnehmen können, vermag der Tastsinn immer noch Unterschiede zu spüren und Oberflächenunebenheiten bis zu 0,001 mm (1 Mikrometer) zu tasten. Martin Grunwald (2017) zeigt in seinem Buch anschaulich, dass Umarmungen, Massagen und Spaziergänge gegen Depression und Angst hilfreicher sind als 1000 Worte. Neuerdings werden beispielsweise Neoprenanzüge bei Magersucht eingesetzt, da sie helfen können, die gravierenden Körperschema-Störungen, die mit dieser Krankheit einhergehen, auszugleichen.

Grunwald zeigt anhand von Forschungsergebnissen auch, warum der exzessive Gebrauch von Tablets und Smartphones im Kleinkindalter die Sprachentwicklung und auch die Fähigkeit der Raumwahrnehmung beeinträchtigen kann oder warum wir mit warmen Händen bei einem Vorstellungsgespräch einen deutlich besseren Eindruck machen als mit kalten.

Sogar unsere Sprache verrät diese Zusammenhänge, wenn wir etwa erzählen, dass eine Rede oder ein Film uns sehr "berührt" haben. Wenn die liebevolle Selbstberührung uns im christlichen Abendland immer noch irgendwie komisch vorkommt, dann scheinen diese Tabus auch mit jahrehundertealter christlicher Moral und der massiven Abwertung des Körpers zu tun zu haben.

Auch in der Traumatherapie bekommen Selbstberührung, Klopfen, Tasten und Spüren des Körpers sehr viel Raum. Die neurobiologischen Zusammenhänge sind hier noch nicht endgültig geklärt. Die Erfahrung zeigt aber, dass Menschen, die sanft auf ihre Hände oder Beine klopfen oder mit festem Griff ihre Körpergrenzen spüren, sehr rasch aus einem Zustand hoher Erregung, der beispielsweise mit Panikattacken oder Flashbacks einhergeht, herauskommen und sich beruhigen.

Literatur

Grunwald, Martin (2017). Homo hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer.