Heterosexuell oder homosexuell?

Die meisten Menschen stellen sich vor, es gäbe eine eindeutige Unterscheidung zwischen heterosexuellen und homosexuellen Menschen. Dass dem jedoch nicht so ist, vermutete schon Sigmund Freud (1999) und das belegen auch jüngste Studien, denen zufolge weitaus mehr Menschen bisexuell sind als angenommen.

Allerdings definieren sich die meisten Menschen, die auch sexuelle Kontakte mit dem gleichen Geschlecht haben, dennoch als heterosexuell. Das gilt insbesondere für Männer. Jane Ward (2018) belegt in ihrem neuesten Buch eindrucksvoll, dass Männer in unterschiedlichsten Kontexten immer schon sexuelle Kontakte miteinander hatten, die dann jedoch als Initiationsrituale, Männlichkeitstest, Ausrutscher oder ähnliches uminterpretiert wurden. Sie zeigt, dass allein der Kontext darüber entscheidet, ob gleichgeschlechtlicher Sex nun als schwul gilt oder eben doch nicht.

Eine in Deutschland veröffentlichte Studie konnte zeigen, dass eine große Zahl homosexueller Männer rein heterosexuelle Leben mit Frau und Kindern führen. Andere Studien gingen davon aus, dass maximal 30% aller hauptsächlich homosexuell verkehrenden Männer sich persönlich als schwul bezeichnen. Die Selbstdefinition als "schwul" wird nämlich häufig auch mit einem bestimmten Lebensstil verknüpft, von dem sich eine große Zahl der Männer distanzieren möchte.

Das mag vielleicht auch ein Grund dafür sein, warum in verschiedenen Studien der Prozentsatz homosexueller Personen in der Bevölkerung zwischen 1% und 25% erheblich schwankt. Das dürfte auch von der Fragestellung abhängen. Fragt man nach der Selbstdefinition als schwul/lesbisch, dürfte dieser Prozentsatz bei 3 bis 5% liegen, fragt man jedoch nach tatsächlichen homosexuellen Kontakten, dürfte dieser Prozentsatz sehr viel höher liegen.

Für die Psychotherapie ist das insofern relevant, als der Prozess des Coming Outs, also der Bewusstwerdung der eigenen Homosexualität, unter bestimmten Umständen, auch heute noch schwierig sein kann. Wer in einer konservativen Familie, in einer streng religiösen Familie oder in einer stark patriarchalen Kultur aufgewachsen ist, könnte im Rahmen seiner Sozialisierung so viele Vorurteile verinnerlicht haben, dass er es schwer findet, eigene gleichgeschlechtliche Anziehung bei sich zu akzeptieren. Derartige Klienten kommen dann häufig mit einem anderen Anliegen in die psychotherapeutische Praxis, etwa mit einer Depression, einer Angststörung oder psychosomatischen Beschwerden.

Vielleicht werden wir eines Tages die Kategorien homosexuell, bisexuell und heterosexuell auch wieder fallen lassen und uns damit begnügen, zu sagen: Menschen sind sexuell.

Literatur

Freud, Sigmund (1999). Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. S. Fischer Verlag.
Ward, Jane (2018). Nicht schwul. Die homosexuelle Zutat zur Erschaffung des ’normalen' Mannes. Männerschwarm Verlag.
Zeitschrift Stern (6.10.2018): Wenn schwule Männer ein Leben mit Ehefrau und Kindern führen.