Von Neurotikern und Normalen

Nach gestalttherapeutischer Ansicht ist eine Neurose die gesunde und sinnvolle Antwort des Einzelnen auf irrationale und „kranke“ gesellschaftliche oder familiäre Zustände. Wir könnten auch sagen, dass das Verhalten welches im Hier und Jetzt als neurotisch gilt, in der Biografie des Klienten irgendwann einmal eine sinnvolle und gesunde Lösung für Probleme darstellte. Und nur weil die Lösung beibehalten wurde, als die Lebensumstände sich geändert haben, wurde sie später zu einer neurotischen, d.h. ungesunden Lösung.

Wir leben heute in einer Gesellschaft und Arbeitswelt, die sich sehr rasch verändert. Immer mehr Menschen kommen mit ihren Anpassungsversuchen an diese veränderte Umwelt nicht mehr nach und entwickeln daher Symptome wie Ängste, Depression, Erschöpfungszustände oder Süchte.

Da Psychotherapeuten und Psychologen in den Medien wahrnehmbarer werden, denken inzwischen immer mehr Menschen an die Möglichkeit, sich psychologische und psychotherapeutische Hilfe zu suchen. Wäre da nicht das Problem, dass ein Anruf bei einem Psychotherapeuten für viele Menschen das Eingeständnis bedeutet, krank zu sein, die Psychotherapeuten dieses Landes könnten wohl die Nachfrage in keinster Weise bewältigen.

C.G. Jung hat in diesem Zusammenhang den Neurotiker vom Normalen unterschieden. Die sogenannten Normalen stellen zweifellos die Mehrheit dar. Es sind dies laut Jung jene Menschen, die jegliche Schwierigkeit und jedes noch so kleine Problem projizieren. – Eheprobleme? Klar, die Ehefrau ist schuld! Probleme, einen Job zu finden? Die Wirtschaft oder die Politiker sind schuld! Probleme mit der Gesundheit? Die Ärzte sind schuld! etc… Der sogenannte Normale kommt also überhaupt nicht in die Verlegenheit, ein Problem zu haben. Das Problem haben ausschließlich die Anderen!

Der Neurotiker hingegen hat eine Ahnung, dass seine Schwierigkeiten im Leben etwas mit ihm selbst zu tun haben. Nach der 3. Scheidung stellt er unweigerlich fest, dass der einzige Mensch, der in allen drei seiner geschiedenen Ehen war, er selbst ist und dass deshalb seine Konflikte möglicherweise innen liegen könnten und nicht außen.

Aus diesem Grund wird in der Regel nur der Neurotiker in Therapie gehen, nicht aber der Normale. Wobei ich die Erfahrung mache, dass das ebenfalls vorkommt. Sein Anliegen muss ich dann im Erstgespräch oft so übersetzen: „Sie möchten also, dass ich die Welt da draußen für Sie verändere, weil nur sie das Problem darstellt?“ Den meisten Klienten wird mit dieser Frage die Absurdität ihrer Erwartungen klar, den meisten, aber nicht allen…

C.G. Jung folgerte aus dem oben Gesagten, dass der Neurotiker letztendlich der Gesündere ist, eben weil er verstanden hat, dass Veränderung in ihm selbst beginnen muss.

Allerdings glaube ich, dass die Schlussfolgerung sogar noch weiter gehen könnte. Psychotherapie hat einen ganz radikal emanzipatorischen Ansatz und unterscheidet sich schon aus diesem Grund wesentlich von der heutigen Auffassung der Schulmedizin. Nicht der Arzt oder Therapeut kann mich gesund machen, sondern nur ich selbst kann das. Der Therapeut oder Arzt kann lediglich Hindernisse auf dem Weg zu meiner Gesundung beseitigen, heilen kann er mich nicht!

Daraus folgt wahrscheinlich auch, dass eine vollständige Kassenfinanzierung von Psychotherapie die Wirksamkeit derselben für viele Patienten verringert. Der Normale, der in Therapie kommt (und sie von der Kasse finanziert bekommt) wird, so er nicht eine Ahnung einer Idee davon bekommt, er könnte etwas mit seinen Schwierigkeiten zu tun haben, unweigerlich feststellen, dass der Therapeut ein Idiot ist und ihm ohnehin nicht weiterhelfen kann. Und aus seiner Perspektive hat er Recht. Denn in dem Versuch, für den Klienten die gesamte Umwelt zu verändern, nur damit er selbst sich NICHT ändern muss, muss notwendigerweise jeder Therapeut scheitern.