Warnung vor pathologisierender Alltagssprache

In den letzten Jahren haben Begriffe wie „toxisch“, „narzisstischer Missbrauch“, „Trauma“ oder „triggern“ eine bemerkenswerte Karriere hingelegt: Sie sind von der Fachebene der Psychologie und Psychotherapie in unseren täglichen Sprachgebrauch eingeflossen. Sie zirkulieren in den sozialen Medien – auf Instagram, TikTok oder YouTube – und scheinen schnelle Erklärungen für komplexe menschliche Interaktionen und Gefühle zu liefern. Diese Entwicklung zeugt einerseits von einer wachsenden Offenheit für psychologische Themen. Das ist grundsätzlich ein wertvoller und wichtiger Schritt, da endlich über seelisches Leid und schwierige Beziehungsdynamiken gesprochen wird. Das schafft Bewusstsein, kann Betroffene entlasten und zur Suche nach professioneller Hilfe ermutigen.

Doch mit der Popularisierung dieser Begriffe geht auch eine gefährliche Verharmlosung und Verwässerung ihrer eigentlichen, klinischen Bedeutung einher. Wenn jedes unangenehme Gefühl als „getriggert“ bezeichnet wird, jeder egoistische Mensch zum „Narzissten“ erklärt wird und jede schwierige Beziehung als „toxisch“ abgestempelt wird, verliert die Sprache ihre Präzision und ihre Fähigkeit, wirklich tiefgreifendes Leid zu beschreiben. Der inflationäre Gebrauch dieser Fachbegriffe birgt gleich mehrere Risiken, die wir nicht unterschätzen dürfen:

  • Entwertung echten Leids: Menschen, die tatsächlich schwere, behandlungsbedürftige Diagnosen haben, sehen diese entwertet und verharmlost, wenn klinisch-diagnostische Begriffe leichtfertig für Alltagsprobleme verwendet werden.
  • Intellektuelle Bequemlichkeit: Die vorschnelle Verwendung eines Etiketts beendet oft das Denken und das ehrliche Gespräch. Anstatt sich in einer Konfliktsituation die Mühe zu machen, die Motive des anderen zu verstehen oder die eigene Rolle zu reflektieren, wird ein Urteil gefällt: "Du bist toxisch", "Das ist mein Trauma". Eine solche Etikettierung ist bequem, verhindert jedoch ein notwendiges Aufeinander-Zugehen und Miteinander-Reden.
  • Schaffung von Gräben und Stigmatisierung: Psychologische Begriffe werden in den sozialen Medien oft als Waffe im zwischenmenschlichen Konflikt eingesetzt. Sie werden genutzt, um andere Menschen zu stigmatisieren, ihnen eine scheinbar unveränderliche, pathologische Eigenschaft zuzuschreiben und sie damit endgültig in eine „kranke“ Schublade zu stecken. Wo Kommunikation und Verständnis nötig wären, werden Mauern errichtet.

Diagnostik ist Facharbeit

Diagnostik ist ausschließlich Fachpersonen vorbehalten! In Österreich sind dies Klinische Psycholog:innen, Psychotherapeut:innen und Ärzt:innen. Diese Expert:innen verfügen über eine langjährige Ausbildung und nutzen wissenschaftlich fundierte Methoden und Klassifikationssysteme (wie die ICD-10), um eine Diagnose zu stellen. Dies ist ein komplexer und verantwortungsvoller Prozess. Youtube-, Instagram- und Tiktok-Diagnosen sind so gut wie immer falsch, grob vereinfachend und benutzen teilweise Begrifflichkeiten, die in der Fachwelt so gar nicht vorkommen.

Die populärwissenschaftliche Laiendiagnostik, die oft durch kurze Videos oder Posts auf Social Media verbreitet wird, ist im besten Fall eine Anregung zur Selbstreflexion, aber im schlimmsten Fall richtet sie mehr Schaden an, als sie nützt. Menschen, die sich oder andere vorschnell diagnostizieren, laufen Gefahr:

  • falsche Behandlungen einzuleiten oder die richtige professionelle Hilfe aufzuschieben,
  • sich selbst in eine Opferrolle zu manövrieren, die einen Ausstieg aus der schwierigen Situation erschwert, da die Zuschreibung einer "Störung" beim Gegenüber eine Veränderung als unmöglich erscheinen lässt,
  • sich strafbar zu machen, da Diagnostik per Gesetz Fachpersonen vorbehalten ist.

Wir sollten die wertvollen Fachbegriffe der Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie mit dem Respekt und der Sorgfalt behandeln, die ihrer klinischen Bedeutung gebührt. Nutzen wir sie als Anstoß für mehr Empathie und als Wegweiser, um bei echtem Leid professionelle Hilfe zu suchen. Aber hüten wir uns davor, sie als einfache Schlagwörter zu missbrauchen, die das Gespräch beenden, anstatt es zu beginnen. Für ein besseres Miteinander brauchen wir Differenzierung und Dialog, nicht nur Etiketten.

Berufslisten

Hier finden Sie jene Fachpersonen, die Ihnen wissenschaftlich fundierte Diagnostik und Therapie anbieten dürfen: