Warum glauben Menschen an Verschwörungstheorien?

Einleitend sei gesagt, dass der Begriff "Verschwörungstheorie" umstritten ist, weil eine Theorie im wissenschaftlichen Sinn gewisse Kriterien erfüllen muss, um eine Theorie genannt werden zu können. Eines der wichtigsten Kriterien ist die potenzielle Falsifizierbarkeit. In der allgemeinen Umgangssprache meint "Theorie" aber eher eine Vermutung oder Annahme. In diesem Sinne verwende ich im folgenden Artikel die Begriffe Verschwörungstheorie, Verschwörungsglaube und Verschwörungsmythos alternativ.

Die Frage, warum Menschen an Verschwörungstheorien glauben, ist komplex und im Einzelfall mögen unterschiedliche Faktoren dafür ausschlaggebend sein. Am Anfang dürften aber häufig Ohnmachtsgefühle, Gefühle der Überforderung, die Erfahrung von Kontrollverlust und eine misstrauische Grundhaltung dem Leben und den Mitmenschen gegenüber stehen. Auch Schwierigkeiten mit Autoritäten, erlittene Kränkungen und Enttäuschungen mögen dabei eine Rolle spielen. Zu viele Informationen auf einmal, eine sich rasch wandelnde Gesellschaft und damit einhergehend, sich verändernde Werte, könnten eine Überforderung für den Einzelnen darstellen, auf die er irgendwie reagieren muss, um sein psychisches Gleichgewicht wieder herzustellen.

Eine Möglichkeit dafür stellt hier die Überkompensation durch eine narzisstische Aufwertung der eigenen Person dar. Verschwörungsmythen liefern häufig einfache Erklärungen für komplexe Sachverhalte. Indem ich mich in der Illusion wiege, dass ich zu den Wissenden gehörte (=narzisstische Aufwertung), während alle anderen unwissend seien, stabilisiere ich mein Selbstwertgefühl. Die nachfolgende Entwertung der Anderen (z.B. als Schlafschafe, Systemlinge oder dergleichen), die nicht so denken wie ich, ist ein typisches narzisstisches Muster. Die Falle ist hier, dass es mir zwar hilft, meinen Selbstwert kurzfristig zu stabilisieren, gleichzeitig isoliert es mich aber immer mehr von meinen Mitmenschen und macht mich noch einsamer.

Das Bedürfnis, das größere Ganze hinter den komplexen Ereignissen in der Welt zu sehen, ist im Kern religiös. Die Religionen in unserer Welt haben womöglich den Anschluss an die Menschen verloren, insofern sie dieses größere Ganze nicht mehr plausibel machen können. Die Menschen vertrauen den großen Religionen oft nicht mehr und suchen sich daher alternative Erklärungen. Auf diese Tatsache hat bereits C.G. Jung hingewiesen. Durch den Vertrauensverlust in die etablierte Religion entsteht ein Sinn-Vakuum, das gefüllt werden möchte. Im glücklichsten Fall geschieht das durch eine spirituelle Autorität mit einer gefestigten Persönlichkeit, die tatsächlich Hoffnung geben kann. Und im schlimmsten Fall durch religiöse und/oder politische Fanatiker, die die Angst der Menschen ausnutzen und für ihre eigenen Zwecke verwenden.

Ein wesentlicher Punkt bei der Erklärung des Verschwörungsglaubens dürfte auch sein, dass Menschen gerne Verantwortung abgeben. Das ist besonders ironisch, weil sich Verschwörungsgläubige häufig als bewusster, kritischer und eigenständiger wahrnehmen. Allerdings tauschen sie bei näherer Betrachtung häufig halbwegs seriöse Informationen der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und der Qualitätszeitungen durch deutlich unzuverlässigere Informationen auf Youbube, Telegram, Tiktok oder anderen Kanälen, die überhaupt keine journalistischen Kriterien (z.B.: Sorgfalt der Recherche, Sachlichkeit bei der Berichterstattung, Unparteilichkeit im Konfliktfall, Argumentation statt Meinungsinflation, Quellenangaben, etc.) mehr anwenden. Im Grunde wird hier ein Ohnmachtsgefühl zementiert und es findet eine Regression auf ein kindliches Niveau statt. Es herrscht das Gefühl vor, dass die Mächtigen mit mir ohnehin machen, was sie wollen. Aber immerhin habe ich sie durchschaut und bin damit im Grunde moralisch besser als sie.

Psychologisch wäre es eigentlich notwendig, aus dem Ohnmachtsgefühl rauszugehen, indem man sich politisch beteiligt und beginnt, auf Gemeinde- oder Bezirksebene mitzugestalten. Die soziale Isolation und stunden- oder tagelange Lektüre einschlägiger Kanäle, die nur die eigene Meinung stützen, aber im Grunde wesentlich unkritischer sind als alle verteufelten Systemmedien zusammen, kann mir nicht helfen, das Ohnmachtsgefühl zu überwinden. Dieses Verhalten macht es, im Gegenteil, noch schlimmer. Das tiefe Einsteigen in Verschwörungsmythen ist so hin auch eine dramatische Inszenierung der eigenen Opferhaltung. Das eigene Kleinsein wird übertrieben, die Macht der Politik teilweise dramatisch übertrieben. An dieser Stelle hat schon so mancher Zyniker eingewendet: Ich glaube nicht, dass die Menschen dieses Planeten intelligent genug sind, eine globale Verschwörung anzuzetteln und durchzuhalten.

Die eigene Einsamkeit wird durch das Festhalten an alternativen Erklärungen und Verschwörungsmythen durch ein Pseudo-Wir- und Größengefühl überkompensiert. Psychologische Analysen von sozialen Medien haben gezeigt, dass Menschen, die sehr häufig das Personalpronomen "wir" verwenden, in der Realität außerhalb des Internets sehr wenige Sozialkontakte haben. Vielen ist dabei nicht bewusst, dass sich in manchen Facebook- und Telegram-Gruppen oft nur wenige hundert Personen befinden, die teilweise mehrere Accounts bedienen oder dass es sich bei manchen der Mitdiskutierenden überhaupt um Bots, und nicht um Menschen handelt. Sich in ein größeres Wir und eine große Gruppe mit gleichen Interessen hineinzufantasieren weist übrigens auch auf ein schwaches Selbstwertgefühl hin. Ein stabiler Erwachsener hält es auch aus, wenn er unter Hunderten mit seiner Meinung allein ist. Je unsicherer ein Mensch ist und je schwächer sein Selbstwertgefühl, desto mehr benötigt er die Bestätigung von außen oder eben die Illusion, Teil einer großen Gruppe zu sein.

Innerhalb der Verschwörungskanäle triggert eine ständige Überflutung mit angeblichen Skandalen und Enthüllungen neuropsychologisch ununterbrochen unser limbisches System, das Emotionszentrum unseres Gehirns. Wir können dadurch nie zur Ruhe kommen und gleichzeitig wird ein rationales, sachliches Abwägen von Informationen auch deutlich erschwert, wenn nicht sogar gänzlich verhindert. Für eine stabile Verankerung in der Welt braucht es mitunter einen kühlen Kopf, viele unterschiedliche soziale Kontakte in der realen Welt und Informationen, die meine Sicht der Welt gelegentlich in Frage stellen. In der Psychiatrie ist das Kriterium für einen schweren Wahn die "Unkorrigierbarkeit", d.h. dass meine Sicht der Welt nicht mehr infrage gestellt werden kann, sie ist unflexibel, dogmatisch und unkorrigierbar geworden. Solange ich noch sagen kann: "Ich könnte mich auch irren", bin ich im psychiatrischen Sinne noch nicht wahnhaft. Und wahrscheinlich bin ich für die Mitmenschen solange auch noch emotional erreichbar.

Mit diesem Artikel möchte ich nicht den Anspruch erheben, das Phänomen Verschwörungsglaube vollständig zu erklären. Ich habe hier lediglich ein paar Gedanken gesammelt, die Hintergründe und mögliche Erklärungen sein könnten. Und wie eingangs erwähnt, können die Wege in den Verschwörungsglauben wohl sehr unterschiedlich sein und hängen auch von wesentlichen biografischen Erfahrungen des Einzelnen ab.