Was ist normal?

Obwohl diese Frage in diesem Sommer häufig in einem politischen Kontext diskutiert wurde, möchte ich mich hier auf den Normalitätsbegriff innerhalb des Gesundheitswesens beschränken.

Eine Frage, die mir in meiner Praxis häufig gestellt wird, ist die Frage: Was ist normal? Und das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Das Grundproblem jeder medizinischen und so auch jeder psychiatrischen Diagnose ist: wo setzen wir die Grenze zwischen noch gesund und schon krank an?

Nehmen wir das Beispiel Intelligenz. Je nach Skala wird dort normale Intelligenz als jener Wert interpretiert, der zwischen 75 und 125 IQ-Punkten liegt. Abgesehen davon, dass heutzutage eher Intelligenzprofile bestimmt werden als ein einziger IQ-Wert, ist es leicht nachvollziehbar, dass wir in der Praxis kaum einen Unterschied zwischen einem Menschen mit 73 oder 75 IQ-Punkten finden werden, Messfehler noch gar nicht mitberücksichtigt.

Ein ähnliches Problem ergibt sich bei allen anderen festgelegten Werten. Ist ein LDL Cholesterinwert bei 130 mg/dl bereits gesundheitsgefährdend oder erst ab 135 mg/dl? Bei psychiatrischen Diagnosen ist das noch schwieriger zu bestimmen. Wenn jemand etwas exzentrisch ist, ab welcher Grenze attestieren wir ihm eine Persönlichkeitsstörung, eine ADHS, etc.?

Diese Fragen sind keineswegs trivial, sie sind von gesellschaftspolitischer Relevanz, entscheiden über Kassenfinanzierung einer Therapie und wirken sich unter Umständen sogar auf die Rechtsprechung aus. Teilweise stecken auch handfeste finanzielle Interessen dahinter. So hat etwa die Pharmaindustrie ein Interesse daran, dass es möglichst viele psychisch Kranke gibt, weil sie dann mehr Medikamente verkaufen kann. Umgekehrt kann mit einer korrekten Diagnose auch viel Leid verhindert und den Betroffenen ein sehr viel lebenswerteres Leben ermöglicht werden.

Bedingt durch neue Ergebnisse der Forschung und der klinischen Praxis, müssen psychiatrische Diagnosen immer wieder neu definiert werden. Sie werden dann im ICD (International Classification of Diseases) in jeweils neuen Versionen veröffentlicht. Seit 2022 gilt die, von der WHO herausgegebene, ICD 11. In Österreich ist gegenwärtig immer noch die ICD 10 in Verwendung. In jeder neuen Version kommen teilweise neue Diagnosen dazu, andere fallen weg oder werden mit neuen Parametern definiert. Welche enorme Tragweite solche Definitionen haben können, sehen wir etwa daran, dass die WHO Homosexualität bis 1990 als Krankheit führte. Seit diesem Zeitpunkt gilt Homosexualität als normale Variante der Sexualität.

Mit der hier beschriebenen Problematik setzt sich der renommierte Psychiater Allen Fances in seinem Buch "Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" auseinander. Auch wenn das Buch sehr stark auf amerikanische Verhältnisse referenziert, ist es doch insgesamt sehr informativ und sensibilisiert für die angesprochene Thematik.