Vorbehalte gegenüber Psychotherapie

Was befürchten Menschen eigentlich, bevor sie eine Psychotherapie beginnen? Was hält sie davon ab, kompetente Hilfe zu suchen und veranlasst sie stattdessen weiter zu leiden? Studien zufolge dauert es nach wie vor durchschnittlich drei bis fünf Jahre von dem Zeitpunkt, an dem ein Mensch das erste Mal die Idee hat, dass Psychotherapie zur Bewältigung seiner Probleme beitragen könnte, bis zur tatsächlichen Vereinbarung eines Erstgesprächs.

Wenn das zutrifft, muss die Angst vor Psychotherapie offenbar sehr groß sein. Oft fällt im Bekanntenkreis schon einmal die Bemerkung: "Such dir einen Therapeuten!", wenn jemand Konflikte oder Probleme hat, mit denen er nicht mehr selbst fertig wird. Bisweilen mag eine solche Aussage auch nur den Zweck haben, jemanden zu verletzen. Und das dürfte die Vorbehalte und Befürchtungen im Zusammenhang mit Psychotherapie nicht gerade kleiner machen. In diesem Beitrag möchte ich versuchen, ein paar der Ängste, die mit Psychotherapie verbunden sind, zu entkräften.

Aus meiner eigenen Praxis und aus der Recherche in diversen Internetforen, habe ich vor allem folgende Ängste eruieren können, die Menschen beschäftigen, bevor sie sich tatsächlich an einen Psychotherapeuten wenden:

  • Sorge bezüglich der Kosten
  • Angst, die Kontrolle zu verlieren
  • Angst, komplett durchschaut zu werden
  • Angst, dass in der Therapie Dinge ans Licht kommen, die dem Betreffenden noch mehr Probleme verursachen
  • Angst als dumm dazustehen, weil der Therapeut (vermeintlich!) alles kann und der Klient nichts
  • Angst vor gesellschaftlicher Stigmatisierung
  • Angst "umprogrammiert" zu werden und zum rücksichtslosen Egoisten zu mutieren
  • Angst vor Abhängigkeit
  • Angst vor unseriösen Therapeuten
  • Angst, dass der Therapeut weltanschaulich überhaupt nicht auf meiner Wellenlänge ist

Nicht alle diese Ängste sind vollkommen unberechtigt. So kann etwa die Finanzierung einer Psychotherapie für Menschen mit geringem Einkommen ein erhebliches Problem oder sogar eine unüberwindbare Hürde darstellen. Welche Möglichkeiten es gibt, Therapie leistbarer zu machen, habe ich in einem früheren Beitrag dargestellt (siehe: Finanzierung von Psychotherapie).

Grundsätzlich geschieht in einer Therapie nichts, was der Klient nicht will. In den ersten Stunden einer Therapie wird genau geklärt, was die Therapieziele und Vorstellungen sind, wie lange die Therapie voraussichtlich dauern wird, welche Methoden der Therapeut erlernt hat und welche Behandlungsmöglichkeiten er für ein bestimmtes Problem als sinnvoll erachtet. Es werden auch Rahmenbedingungen wie die Höhe des Honorars, Möglichkeiten der Kassenfinanzierung, Urlaubs- und Absageregelungen und das genaue Setting (Häufigkeit der Sitzungen, Einzel- oder Gruppensitzungen, Kontaktmöglichkeiten zwischen den Sitzungen, etc.) besprochen. Erst danach entscheidet der Klient für sich, ob er sich auf diesen Prozess einlassen möchte oder nicht. Niemand kann zu einer Psychotherapie gezwungen werden. Dies auch deshalb, weil die Eigenmotivation eine wichtige Voraussetzung für den Erfolg einer Therapie ist. Der Erfolg ist mitunter bereits fraglich, wenn Personen in Therapie "geschickt" werden oder nur kommen, weil der Partner das will.

Die Angst komplett durchschaut zu werden, hängt vielleicht auch mit einer sehr unrealistischen Einschätzung von Therapeuten zusammen. Einerseits werden diese abschätzig als "Psychoheinis", "Vogel-Doktoren" oder Schlimmeres bezeichnet, andererseits werden ihnen aber auch Wunderdinge zugetraut, wie etwa Allwissenheit, vollständige Bewusstheit in der Nähe der Erleuchtung und hundertprozentige Selbstbeherrschung. Gott sei Dank sind Psychotherapeuten aber ganz normale Menschen mit Fehlern, Schwächen, Neurosen und bizarren Angewohnheiten, wie alle anderen Menschen auch. Der einzige Unterschied zum Nicht-Psychologen oder Nicht-Therapeuten ist nur der, dass sie sich etwas intensiver mit eigenen Schattenanteilen auseinandergesetzt haben als andere. Und genau deshalb sind sie in der Lage, Ängste, Voreingenommenheiten, Befürchtungen und Schwierigkeiten von anderen Menschen vielleicht eine Spur besser zu verstehen als der Durchschnittsbürger außerhalb des Gesundheitswesens.

Die Angst, dass in der Therapie Dinge ans Licht kommen könnten, die das Leben des Klienten noch schwieriger machen, hat häufig damit zu tun, dass bereits eine Ahnung besteht, was das Problem sein könnte. Dann ist es leichter, lieber nicht dort hin zu sehen, andernfalls müsste man ja die Verantwortung dafür übernehmen und wirklich etwas verändern. Da ist Jammern ohne Eigenverantwortung deutlich bequemer. Tatsächlich ist es, und das ist der reale Kern dieser Befürchtung, oft so, dass es Menschen, die eine längere Therapie beginnen, zunächst schlechter geht. Das hat vor allem damit zu tun, dass der Klient jetzt Verantwortung übernimmt und sich mit seinen Schwierigkeiten und Problemen intensiver konfrontiert als er das in den Monaten und Jahren davor getan hat. Dieser Effekt muss jedoch nicht immer eintreten und selbst wenn, dürfte in aller Regel nach spätesten 10 Sitzungen eine allmähliche Verbesserung spürbar sein.

Die gesellschaftliche Stigmatisierung im persönlichen Umfeld, in der Firma, im Dorf, wenn bekannt wird, dass man in Psychotherapie geht, ist tatsächlich nicht zu unterschätzen, weil das Wissen über Psychotherapie in Teilen der Bevölkerung immer noch gering ist. Im Normalfall ist es aber relativ leicht möglich, darüber entweder nicht zu sprechen, die Investition in die eigene Entwicklung als Coaching zu bezeichnen oder ganz aktiv Bewusstseinsbildung zu leisten und die Menschen im Umfeld darüber zu informieren, was Psychotherapie wirklich ist und was dort geschieht und was nicht.

Jedenfalls muss man nicht "verrückt" sein, um eine Psychotherapie aufzusuchen. Vielmehr spricht der Wunsch, sich selbst weiterentwickeln zu wollen und aktiv etwas gegen eigene Schwierigkeiten tun zu wollen, eher für mehr Eigenverantwortung und Gesundheit, als sie der Durchschnittsbürger aufzubringen in der Lage ist.

Recht häufig wird auch die Angst vor Abhängigkeit genannt. Diese Befürchtung mag in hochfrequenten Therapien (mehrere Sitzungen pro Woche) eine gewisse Berechtigung haben. In der humanistischen Psychotherapie, zu der die Gestalttherapie gehört, arbeiten Therapeuten jedoch in jeder Sitzung daran, die Selbstheilungskräfte des Klienten zu aktivieren und seine Selbständigkeit aktiv zu fördern. Auf den Punkt gebracht, arbeitet ein Therapeut ständig daran, sich selbst überflüssig zu machen. Dazu gehört einerseits eine fachlich und wissenschaftlich fundierte Aufklärung darüber, was bei bestimmten Problemen und Störungsbildern state of the art (aktueller wissenschaftlicher Standard) ist, andererseits aber auch, dass der Therapeut die Behandlung nicht unnötig in die Länge zieht. Sollten sich über längere Zeit keine wichtigen Themen finden, wird der Therapeut dies thematisieren, um so neue Ziele für die Therapie zu finden oder deren Beendigung zu vereinbaren.

Dass Therapie den Klienten zum rücksichtslosen Egoisten macht, ist eine recht verbreitete Vorstellung. Und möglicherweise betrifft dieses Vorurteil ganz besonders die Gestalttherapie, die möglicherweise noch mehr als andere Therapiemethoden auf Selbständigkeit, Selbstregulation und Selbstverantwortung baut. Was oft vergessen wird, ist allerdings die Tatsache, dass eine genaue Kenntnis meiner Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle mich, oberflächlich betrachtet, egoistischer macht, etwas genauer betrachtet jedoch empathischer, verständnisvoller und mitfühlender. Ich werde meinen Mitmenschen dann nicht mehr in vorauseilendem Gehorsam alle Wünsche erfüllen, sondern ich werde auch einmal "nein" sagen. Indem ich aber mit mir selbst und meinen Gefühlen in Kontakt bin, habe ich überhaupt erst die Möglichkeit aus Mitgefühl zu handeln. Das pseudo-altruistische Handeln aus einer Konvention heraus ("das tut man halt so…") ist ja in Wirklichkeit reine Berechnung und ein Handeln, das aus Angst resultiert.

Die Befürchtung, der Therapeut könnte weltanschaulich nicht auf meiner Wellenlänge liegen, ist differenziert zu betrachten. Vor allem sollte hinterfragt werden, was damit gemeint ist.

  • Ist damit gemeint, dass der Therapeut meine Schwierigkeiten anders sieht als ich selbst?
  • Ist damit gemeint, dass er mich von einer bestimmten Weltanschauung überzeugen möchte?
  • Oder ist damit gemeint, dass er mir einfach als Person nicht liegt?

In ersterem Fall wäre das genau der Sinn einer Therapie, nämlich neue Sichtweisen und Blickpunkte auf meine Probleme zu gewinnen. Der zweitere Fall ist rein rechtlich ausgeschlossen. Therapeuten dürfen Weltanschauliches und Religiöses gar nicht von sich aus in die Therapie einbringen und haben grundsätzlich jeder Klientin und jedem Klienten mit Offenheit zu begegnen. Wenn es in der Praxis dennoch vorkommt, stellt das einen Verstoß gegen die Berufsethik dar. Klienten haben dann die Möglichkeit, sich mit einer Beschwerde an die Schlichtungs-, Ethik- oder Beschwerdestellen der Bundesländer oder an das Gesundheitsministerium zu wenden. Wenn, um den dritten Fall zu nennen, der Therapeut Ihnen ganz persönlich nicht sympathisch ist, wäre es Ihr gutes Recht, sich einen anderen Therapeuten zu suchen, der Ihnen mehr liegt. Schließlich ist in zahlreichen Studien zur Psychotherapie belegt, dass die Klient-Therapeut-Beziehung den wichtigsten unspezifischen Faktor für den Erfolg einer Therapie darstellt.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Psychotherapie Menschen mit Sicherheit weniger angepasst, emanzipierter und selbständiger macht, aber sie führt sie auch zu sich selber hin, zu ihrer eigenen Anlage, zu ihren eigenen Fähigkeiten, Potenzialen und ihrer schöpferischen Kraft. Und gar nicht so selten dürften potenzielle Klienten sich eher davor fürchten, nun Verantwortung für ihre Lösungsversuche und Schwierigkeiten übernehmen zu müssen, als vor der Psychotherapie selbst.

Literatur

Leitner, Anton, Schigl, Brigitte, Märtens, Michael (Hg.) (2014). Wirkung, Risiken und Nebenwirkungen von Psychotherapie. Ein Beipackzettel für TherapeutInnen und PatientInnen. Wien: facultas.wuv.